
Verzweifelte Proteste in Israel: Wenn Angehörige zu drastischen Mitteln greifen müssen
Die Bilder aus Jerusalem sprechen eine deutliche Sprache: Brennende Mülltonnen vor dem Haus des Ministerpräsidenten, riesige Anklagebanner an der Nationalbibliothek und blockierte Zufahrtsstraßen zur Knesset. Was sich wie Szenen aus einem gescheiterten Staat liest, ist die bittere Realität im heutigen Israel. Fast 700 Tage nach Beginn des Gaza-Krieges greifen verzweifelte Angehörige der Hamas-Geiseln zu immer drastischeren Mitteln, um ihre Regierung zum Handeln zu bewegen.
Der Schrei der Verzweiflung
„Ein Staat darf seine Bürger nicht aufgeben", rief eine Demonstrantin vom Dach der Nationalbibliothek. Diese Worte treffen den Kern einer tiefen Krise, die Israel erschüttert. Während Benjamin Netanjahu weiterhin auf militärische Lösungen setzt und die Mobilisierung Zehntausender Reservisten für die Einnahme von Gaza-Stadt vorantreibt, befinden sich noch immer 48 israelische Geiseln in der Gewalt der Hamas – nur 20 von ihnen sollen noch am Leben sein.
Die Angehörigen haben genug von leeren Versprechungen und diplomatischem Versagen. Ihr „Tag der Störung" markiert einen Wendepunkt im innenpolitischen Konflikt Israels. Wenn Bürger zu solchen Mitteln greifen müssen, um von ihrer eigenen Regierung gehört zu werden, offenbart dies ein fundamentales Versagen der politischen Führung.
Netanjahus gefährliches Spiel
Besonders bitter stößt den Demonstranten auf, dass Netanjahu ein Vermittlungsangebot ausschlug, das die Freilassung der Hälfte der Geiseln vorsehen sollte. Stattdessen treibt er militärische Offensiven voran, die nicht nur das Leben israelischer Soldaten, sondern auch das der verbliebenen Geiseln gefährden. Die riesigen Banner mit der Aufschrift „Du hast sie aufgegeben und getötet" bringen die Wut und Verzweiflung der Angehörigen auf den Punkt.
Ron Dermer, Minister für Strategische Angelegenheiten und Israels Chefunterhändler, steht ebenfalls im Kreuzfeuer der Kritik. Seit seiner Ernennung konnte er nicht die Freilassung eines einzigen Gefangenen erreichen – ein vernichtendes Zeugnis für die Verhandlungsführung der Regierung.
Eskalation auf allen Ebenen
Als wäre die innenpolitische Krise nicht genug, verschärft sich auch die Sicherheitslage dramatisch. Die jemenitische Huthi-Miliz feuerte erneut ballistische Raketen auf Israel ab, diesmal sogar mit Streumunition. Hunderttausende Israelis mussten in Tel Aviv, Jerusalem und anderen Städten in Schutzräume flüchten. Der internationale Flughafen Tel Aviv musste den Flugverkehr zeitweise einstellen.
Diese Angriffe sind direkte Folgen des nicht enden wollenden Gaza-Krieges. Die Huthi-Miliz handelt aus Solidarität mit der Hamas – ein weiterer Beweis dafür, wie Netanjahus Kriegspolitik Israel zunehmend isoliert und neue Feinde schafft. Der israelische Vergeltungsschlag, bei dem der Huthi-Ministerpräsident und neun seiner Minister getötet wurden, wird die Spirale der Gewalt nur weiter anheizen.
Die Stimme des Volkes wird lauter
Bereits Ende August gingen Hunderttausende Israelis auf die Straße, um für einen Geisel-Deal zu demonstrieren. Doch die Regierung blieb taub für diese Rufe. Nun greifen die Menschen zu drastischeren Mitteln – ein Zeichen dafür, dass die Geduld am Ende ist. Wenn friedliche Proteste ignoriert werden, suchen sich Verzweiflung und Wut andere Ventile.
Die israelische Polizei spricht von „unverantwortlichen Taten", doch wer trägt hier wirklich die Verantwortung? Eine Regierung, die ihre eigenen Bürger im Stich lässt und militärische Abenteuer über Menschenleben stellt, oder verzweifelte Angehörige, die nach fast zwei Jahren des Wartens zu unkonventionellen Protestformen greifen?
Ein Land am Scheideweg
Israel steht an einem kritischen Punkt seiner Geschichte. Die innere Zerrissenheit zwischen einer kriegstreiberischen Regierung und einer friedenssehnenden Bevölkerung wird immer deutlicher. Während Netanjahu weiter auf Eskalation setzt, fordern immer mehr Israelis ein Ende des Blutvergießens und die Rückkehr ihrer Angehörigen.
Die Ereignisse des „Tags der Störung" sind mehr als nur Proteste – sie sind ein Weckruf für eine Gesellschaft, die zwischen militärischer Härte und menschlicher Vernunft zerrissen ist. Wenn eine Regierung ihre eigenen Bürger derart im Stich lässt, dass diese zu solchen Mitteln greifen müssen, stellt sich die Frage nach ihrer Legitimität.
Die kommenden Wochen werden zeigen, ob Netanjahu endlich auf die Stimme seines Volkes hört oder ob er Israel weiter in eine Spirale aus Gewalt und Isolation treibt. Die Zeit läuft – für die Geiseln, für ihre Angehörigen und für die Zukunft Israels selbst.
- Themen:
- #Wahlen