
Rechtschaos an deutschen Grenzen: Polizisten fürchten persönliche Haftung nach Asyl-Urteil
Die deutsche Grenzpolitik steht vor einem juristischen Scherbenhaufen. Ein Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin erschüttert die Grundfesten der von Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) verfügten Zurückweisungspraxis und versetzt die Bundespolizei in Alarmbereitschaft. Was als entschlossene Maßnahme zur Migrationskontrolle gedacht war, entpuppt sich nun als rechtliches Minenfeld für die ausführenden Beamten.
Richterspruch contra Ministerweisung
Das Berliner Verwaltungsgericht hat unmissverständlich klargestellt: Die Zurückweisung von drei somalischen Asylsuchenden an der Grenze war rechtswidrig. Ohne vorherige Klärung im sogenannten Dublin-Verfahren, welcher EU-Staat für den Asylantrag zuständig sei, dürften Schutzsuchende nicht einfach abgewiesen werden. Diese Entscheidung trifft die Dobrindt'sche Grenzpolitik ins Mark – hatte der CSU-Minister doch nur wenige Stunden nach seinem Amtsantritt im Mai eine Intensivierung der Grenzkontrollen angeordnet.
Besonders brisant: Unter den abgewiesenen Somaliern befand sich auch eine unbegleitete Minderjährige. Ein Detail, das die rechtliche Fragwürdigkeit der Maßnahme noch unterstreicht.
Beamte zwischen Hammer und Amboss
Andreas Roßkopf, Vorsitzender der Bundespolizei in der Gewerkschaft der Polizei (GdP), bringt die Sorgen seiner Kollegen auf den Punkt: "Natürlich ist es eine Einzelfallentscheidung zunächst, aber es bleibt festzuhalten, dass es Fälle sind, die wir tagtäglich haben und somit kommt jetzt eine gewisse Verunsicherung im Kollegenkreis auf." Die Crux: Polizisten seien letztlich selbst für ihr Handeln verantwortlich und müssten dafür geradestehen.
Die Beamten stecken in einem klassischen Dilemma. Einerseits sind sie verpflichtet, die Weisungen ihres Ministers zu befolgen. Andererseits haben sie eine sogenannte Remonstrationspflicht – sie müssen sich zu Wort melden, wenn sie mit offenkundig rechtswidrigen Anweisungen konfrontiert werden. Doch was ist offenkundig rechtswidrig, wenn selbst Juristen "sehr zwiespältig in ihrer Meinung" sind?
Die Angst vor persönlicher Haftung
Roßkopfs Forderung ist eindeutig: "Die Weisung ist umzusetzen, aber die Haftung der Kollegen muss explizit letztendlich rausgenommen werden." Eine Forderung, die zeigt, wie tief die Verunsicherung sitzt. Polizisten, die eigentlich für Recht und Ordnung sorgen sollen, fürchten nun selbst, auf der falschen Seite des Gesetzes zu stehen.
Politisches Kalkül versus Rechtsstaat
Kanzleramtsminister Thorsten Frei (CDU) versucht die Wogen zu glätten, indem er dem Urteil die grundsätzliche Bedeutung abspricht: "Ein Verwaltungsgericht kann natürlich keine politische Entscheidung mit Wirkung für das gesamte Land treffen." Eine bemerkenswerte Aussage, die die Frage aufwirft: Steht die Politik über dem Recht?
Frei begründet die Zurückweisungen mit einer "Überforderungssituation" durch zu viel Migration – bei der Kinderbetreuung, in Schulen und im Gesundheitswesen. Doch rechtfertigt eine politisch wahrgenommene Überforderung das Ignorieren von EU-Recht und Gerichtsurteilen?
Scharfe Kritik aus der Anwaltschaft
Gisela Seidler, Fachanwältin für Migrationsrecht und Vorsitzende im Gesetzgebungsausschuss des Deutschen Anwaltsvereins, findet deutliche Worte: Dobrindt missachte nicht nur das Berliner Urteil, sondern auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. "Auch wenn ein Gesetz oder eine Rechtsprechung einem nicht gefällt, muss man sich als Exekutive daran halten", mahnt sie. Andernfalls drohe der Rechtsstaat auf der Strecke zu bleiben.
Besonders pikant: Das Gericht habe keine reine Einzelfallentscheidung getroffen, sondern sich grundsätzlich mit der Frage auseinandergesetzt, ob Asylsuchende bei Grenzkontrollen ohne Beachtung des EU-Rechts zurückgewiesen werden dürften. Eine ganze Kammer, nicht nur ein Einzelrichter, habe sich umfassend mit der EuGH-Rechtsprechung auseinandergesetzt.
Ein Rechtsstaat in der Zerreißprobe
Was wir hier erleben, ist mehr als nur ein juristischer Disput. Es ist ein Grundsatzkonflikt zwischen politischem Handlungswillen und rechtsstaatlichen Prinzipien. Wenn Minister Weisungen erteilen, die möglicherweise gegen geltendes Recht verstoßen, und ihre Beamten dann persönlich dafür haften lassen – was sagt das über den Zustand unseres Rechtsstaats aus?
Die Bundesregierung will nun "nacharbeiten" und "sehr genau spezifizieren", wie Frei ankündigt. Doch während in Berlin nachgearbeitet wird, stehen an den Grenzen täglich Polizisten vor der Frage: Befolge ich die Weisung und riskiere persönliche Konsequenzen? Oder verweigere ich den Befehl und gefährde meine Karriere?
Es ist bezeichnend für die aktuelle Migrationspolitik, dass diejenigen, die sie umsetzen sollen, zwischen allen Stühlen sitzen. Die Verunsicherung der Polizisten ist nicht nur ein arbeitsrechtliches Problem – sie ist Symptom einer Politik, die sich zunehmend in Widersprüche verstrickt. Wenn selbst die ausführenden Beamten nicht mehr wissen, was rechtens ist, dann haben wir ein fundamentales Problem.
Die Forderung nach Rechtssicherheit für die Polizisten ist berechtigt und dringend. Doch die eigentliche Frage lautet: Wie konnte es soweit kommen, dass deutsche Beamte bei der Ausführung ministerieller Weisungen um ihre rechtliche Integrität fürchten müssen? Ein Rechtsstaat, der seine Vollzugsbeamten in solche Dilemmata treibt, hat ein ernsthaftes Glaubwürdigkeitsproblem.
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