
Frankreichs verklärte Kulturgeschichte: Wenn die unbequemen Wahrheiten unter den Tisch fallen
Eine neue Kulturgeschichte Frankreichs verspricht "Esprit und Leidenschaft" - doch was der Historiker Volker Reinhardt in seinem 656-seitigen Werk präsentiert, gleicht eher einer geschönten Märchenstunde als einer ehrlichen Auseinandersetzung mit der französischen Vergangenheit. Während Deutschland sich täglich mit seiner historischen Schuld konfrontiert sieht, scheint es für unsere westlichen Nachbarn völlig legitim zu sein, die dunklen Kapitel ihrer Geschichte einfach auszublenden.
Ein Mosaik mit fatalen Lücken
Reinhardt wählt für seine Darstellung das Bild eines Mosaiks - doch was nützt das schönste Kunstwerk, wenn entscheidende Steine fehlen? Der Autor führt den Leser vom mittelalterlichen Rolandslied bis zu Mitterrands monumentalen Bauprojekten, präsentiert dabei die üblichen Verdächtigen der französischen Kulturgeschichte: von Descartes über die Impressionisten bis zu Sartre. Was er verschweigt, wiegt jedoch schwerer als das, was er erzählt.
Besonders pikant erscheint die Ausgangslage: Wie schreibt man die Kulturgeschichte einer Nation, deren amtierender Präsident Emmanuel Macron selbst behauptet hat, Frankreich besitze gar keine spezifische Kultur? Diese bemerkenswerte Selbstverleugnung scheint symptomatisch für den Zustand eines Landes, das zwischen Größenwahn und Identitätsverlust schwankt.
Die systematische Ausblendung unbequemer Wahrheiten
Was Reinhardt konsequent ausblendet, liest sich wie eine Anleitung zur Geschichtsfälschung. Der jakobinische Terror mit seinem "innerfranzösischen Völkermord", wie der Historiker Reynald Sécher es treffend bezeichnet, findet keine Erwähnung. Die jahrhundertelange Kriegstreiberei Frankreichs gegen seine Nachbarn wird unter den Teppich gekehrt. Vom bestialischen Krieg Ludwigs XIV. gegen das Heilige Römische Reich (1688-1697), bei dem ganze Dörfer ohne Erbarmen niedergebrannt wurden, über die napoleonischen Eroberungskriege bis zum französischen Angriffskrieg von 1870/71 - all das passt offenbar nicht ins Bild der "milden" Kulturgeschichte.
Während Deutschland bis heute für die zwölf Jahre des Nationalsozialismus büßt, darf Frankreich seine jahrhundertelange Terrorisierung der Nachbarn und die Ausplünderung halber Kontinente offenbar folgenlos vergessen. Diese Doppelmoral ist nicht nur intellektuell unredlich, sie verhindert auch eine ehrliche europäische Verständigung.
Die Verlierer werden dem Vergessen überantwortet
Besonders aufschlussreich ist, wen Reinhardt in seiner Kulturgeschichte unterschlägt. Alle konservativen und gegenrevolutionären Denker werden systematisch ausgeblendet: Charles Péguy, Pierre Drieu la Rochelle, Louis-Ferdinand Céline, Henry de Montherlant - sie alle gehören offenbar zu jenem Frankreich, das für den Autor "als Verlierer aus der Geschichte hervorgegangen ist". Stattdessen bekommt Brigitte Bardot sieben Zeilen gewidmet - allerdings ohne Hinweis auf ihre späteren politischen Positionen, die dem Mainstream nicht genehm sind.
Diese selektive Geschichtsschreibung offenbart ein grundsätzliches Problem: Geschichte wird hier nicht erzählt, wie sie war, sondern wie sie ins aktuelle politische Narrativ passt. Die "French Theory" mit all ihren fatalen Folgen für die westliche Zivilisation wird unkritisch gefeiert, der widerwärtige Rassismus eines Frantz Fanon wird als Emanzipation verklärt, und Sartres Sympathien für maoistische Massenmörder werden diskret übergangen.
Der Preis der Verklärung
Was bleibt, ist eine Kulturgeschichte, die ihren Namen nicht verdient. Sie gleicht eher einer Propagandaschrift, die das "schöne Frankreich" feiert und dabei vergisst, dass wahre Größe auch die Auseinandersetzung mit den eigenen Schattenseiten erfordert. Die "weltumspannende und weltbeglückende Kulturmission" Frankreichs, von der Reinhardt schwärmt, hat sich in der Realität allzu oft als imperialistische Unterdrückung entpuppt.
Heute steht Frankreich vor den Trümmern seiner multikulturellen Träume. Die Banlieues brennen, der Islamismus greift um sich, und die Grande Nation droht in der selbstverschuldeten Identitätskrise zu versinken. Doch statt sich ehrlich mit den Ursachen auseinanderzusetzen, flüchtet man sich in eine geschönte Vergangenheit. Reinhardts Buch ist symptomatisch für diese Flucht vor der Realität - ein intellektueller Offenbarungseid, verpackt in 656 Seiten akademischer Prosa.
Es wäre an der Zeit, dass auch Frankreich lernt, ehrlich mit seiner Geschichte umzugehen. Nur wer seine Vergangenheit kennt und anerkennt, kann eine Zukunft gestalten. Doch dazu müsste man erst einmal aufhören, die eigene Geschichte wie ein Renoir-Gemälde zu betrachten - schön anzusehen, aber weit entfernt von der harten Realität.
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